Vor langer Zeit, noch bevor Dörfer und Grenzen existierten, stand der Kronberg bereits. Das Tal zu seinen Füssen, wie auch sein Gipfel waren in Wolken und Dunkelheit gehüllt. Eine kühle Atmosphäre hielt vieles Leben fern. Doch eines Tages geschah etwas Besonderes…!
Durch die knorrigen Bäume am Kronberg, durch Dunst und Nebel bewegt sich eine lichte Gestalt. Es ist Arnika, die kleine Kräuterfee. Sie ist so alt wie die Erde, doch jung geblieben, strahlend und schön. Sie hüpft, springt und tanzt, ist ständig in Bewegung. Jeden Tag nutzt sie ihre Magie und lässt, wo sie geht, Blumen und Kräuter in allen Farben spriessen. Sie kennt jede Pflanze mit Namen: Ringelblume, Enzian, Johanniskraut.
Der Regen, ihr bester Freund hilft mit, die Welt um Arnika farbig zu gestalten. Doch manchmal ist es für sie schwierig, die Blüten und Farben weiter zu verbreiten. So sehr sie sich auch anstrengt, es ist ihr nie gelungen, die Dunkelheit im Tal zu vertreiben.
Hast du Arnika schon gesehen zwischen den Blumen? Schau genau hin. Vielleicht entdeckst du sie. Vielleicht aber siehst du auch Jacobi, den Himmelsprinzen.
Weit über dir, ganz allein im rauschenden Wind, fliegt er auf dem Rücken seiner Lieblingskrähe. Er wohnt zuoberst am Kronberg. Wild fuchtelt er mit den Armen. Er muss Windböen erzeugen und den Nebel zurückstossen. Manchmal reitet er auf einem alten Hirsch mit einer moosigen Geweihkrone.
Arnika und Jacobi sind sich noch nie begegnet.
Arnika hatte wieder einmal getanzt. Unbemerkt stand sie plötzlich am Berg. Noch nie war sie so weit gegangen, aus Angst, die Sicherheit, die ihr die Bäume gaben, zu verlassen. Erschrocken wollte sie umkehren, da stellte sie mit Bedauern fest, dass auf dem Hang vor ihr noch nie ein Blümchen gewachsen war. Was, wenn sie noch ein bisschen weiter ginge? Nur ein paar Schritte, um Blumen an einen bisher unberührten Ort zu bringen. Allen Mut nahm sie zusammen und ging strammen Schrittes aufwärts. Arnika nahm einen tiefen Atemzug von der frischen Bergluft. Noch nie hatte sie etwas Herrlicheres wahrgenommen. Aufgeregt stieg sie höher, drehte sich eins ums andere Mal mit ausgebreiteten Armen um sich selbst. Je weiter sie ging, desto stärker wurde der Wind. Den mochte sie nicht. Sollte sie umkehren? In diesem Moment fiel ihr etwas vor die Füsse…
Genau an diesem Tag hatte sich Jacobi wieder einmal auf seinen Freund, den alten Hirsch geschwungen und mit aller Kraft die Wolken weggeschoben. Er wusste, dass sie, wenn er nicht wachsam war, bald wieder zurückrollen würden. Seine Augen schweiften über die Landschaft, als ihm plötzlich ein Blitzgedanke kam. Ob Wolken wohl auch hinunter ins Tal rollen können?
Nie zuvor hatte er daran gedacht den Berg zu verlassen. Doch jetzt spürte er das starke Bedürfnis, den Gipfel hinter sich zu lassen und den schweren Dunst unten im Tal mit seinem Wind zu vertreiben. Er setzte sich seiner Lieblingskrähe auf den Rücken und flog freudig über Hänge und Felsen, schneller, immer schneller. Schon setzten sie zum Sinkflug an als Jacobi von ein paar Regentropfen getroffen wurde. Es folgte ein sintflutartiger Wolkenbruch. Die Krähe, erschrocken von diesem Wetterwechsel, liess Jacobi fallen. Er rollte hangabwärts, schlug Purzelbaum um Purzelbaum, bis er sich endlich selber stoppen konnte. Und dann…
Jacobi öffnet langsam die Augen. Vor ihm steht ein märchenhaftes Mädchen im gelben Kleidchen.
«Hallo!», sagt er verdutzt, steht auf und streicht sein Haar aus dem Gesicht.
«Wer bist du?», fragt Arnika erschrocken. Nie zuvor hat sie hier in der Nähe jemanden gesehen.
«Ich bin Jacobi, der Himmelsprinz. Ich produziere den Wind auf dem Berggipfel.»
«Ein Prinz?», lacht Arnika.
Der Stolz des Himmelsprinzen gerät etwas ins Wanken. «Ich halte die Wolken fern, indem ich den Wind erzeuge und …»
«Den Wind?», fällt Arnika ihm ins Wort. «Halt ihn lieber fern. Der hindert mich beim Streuen meiner Blumen und Kräuter.»
«Blumen und Kräuter?», fragt Jacobi verwirrt. «Wer bist du?»
«Ich bin Arnika, ich versuche mit Blumen die Dunkelheit zu vertreiben.»
«Blumen?», hänselt Jacobi, «das ist nichts im Vergleich zu meinen Kräften.»
«Dann komm mit mir!» Arnika hüpft talabwärts. Jacobi folgt ihr. Staunend beobachtet er, wie sich der Boden um Arnikas Füsse mit jedem ihrer Schritte in eine Blumenpracht verwandelt. Und wie sich Glück und Leichtigkeit verbreiten.
«Nicht so sinnlos, was?», neckt ihn die Blumenfee. «Es geht noch viel einfacher ohne diesen ärgerlichen Wind.»
«Mein Wind! Mein Wind», ruft Jacobi. Er hat plötzlich eine Idee.
«Was ist mit dem Wind?», fragt Arnika.
Der Himmelsprinz lächelt. «Tanz noch einmal!»
Arnika beginnt sich zu drehen.
«Mach weiter, tanze, tanze!», ruft Jacobi. Er hebt seine Arme. In seinen Händen entstehen mächtige Windböen. Sie wirbeln um Arnikas Haare und blasen den feinen Feenstaub in alle Richtungen. Und wo er hinfällt, gedeihen die Farben. Die Dunkelheit schwindet. Erstmals durchdringt ein Sonnenstrahl die dichten Wolken und die Blumen fangen an zu funkeln wie Juwelen.
Arnika und Jacobi staunen, den Mund weit geöffnet. Sie haben die ganze Umgebung zum Leben erweckt.
Jacobi nimmt Arnika bei der Hand. Gemeinsam rennen sie über die Hügel Richtung Berg, höher und höher. Sie lassen den Regen hinter sich, doch der Wind wird stärker. Für den letzten steilen Anstieg ruft Jacobi die Krähen, welche die Beiden durch die Lüfte tragen, bis hinauf zum Berggipfel.
«Und jetzt, schau her!», ruft Jacobi. Mit ganzer Kraft stösst er die Wolke weg, die über ihnen hängt. Nur kurz scheint die Sonne durch und Arnika sieht, wie der Boden braun und voller Risse ist und sie fragt:
«Warum stösst du die Wolken zurück? Dieser Boden braucht Regen!»
«Ich hasse den Regen», sagt Jacobi trotzig. «Bei Regenwetter kann ich nicht fliegen. Der Berg braucht Licht, keinen Regen!»
«Aber wie soll denn alles wachsen?», fragt Arnika. Jacobi zuckt mit den Schultern. «Hole die Wolken zurück. Dann will ich dir etwas zeigen», befiehlt seine neue Freundin.
Der Himmelsprinz dreht sich um seine eigene Achse und zieht Kreise, bis die Luft um ihn herum peitscht. Ein Sturm entsteht. Genau in diesem Moment ruft Arnika den Regen herbei. Sonnenstrahlen und sintflutartige Regengüsse wechseln sich ab.
Jacobi ist bis auf seine Haut durchnässt. Er schaut auf den Boden. Seit er sich erinnern kann, war dieser braun und staubig. Jetzt, mit den Regen wächst frisches Gras. Jacobi atmet die nasse Luft tief ein. Zum ersten Mal in seinem Leben geniesst er den Regen. Und neben ihm steht Arnika mit offenem Mund, erstmals beeindruckt von der Kraft des Windes.
Seither gehen Arnika, die Kräuterfee und Jacobi, der Himmelsprinz gemeinsam Hand in Hand, bergauf und bergab. Manchmal reiten sie auf den Krähen, manchmal auf dem Hirsch.
Ins Tal bringen sie Blumen. Auf dem Gipfel verbreiten sie frische Luft.
Sie haben gelernt, dass sich der Wind und der Regen – Dinge, die sie einst nicht mochten – wunderbar ergänzen und ihren Berg so schön machen wie er heute dasteht.
Wenn du den Kronberg besuchst, schau und höre genau hin. Vielleicht entdeckst du Arnika und Jacobi fröhlich tanzend zwischen Berg und Tal im Appenzellerland.